The GLITCH

ein popwissenschaftlicher Essay zu Jacqueline Heer

MORPHOGENESIS

von Richard Rabensaat

Das Geschehen bleibt unbestimmt, die Form zittrig, die Farbe diffus. In dem Video Mophogenesis von Jacqueline Heer gibt es keine eindeutigen Haltepunkte.

Am Anfang steht eine Form, die auf einer planen Oberfläche einen harten Schatten wirft. Zwei dünnere Äste oder Zeiger weisen von der voluminösen Hauptform ab. Das ganze Gebilde ist durch Ringe und Verknotungen gegliedert. Vielleicht sind es auch Scheiben einer baumartigen Substanz, die aufeinander geschichtet sind. Seine beige Farbigkeit spielt etwas ins Rötliche. Mit seinen runden, weichen Formen erinnert das Objekt auch an ein Sexspielzeug oder ein männliches Sexualorgan.

Dem Betrachter bieten sich viele Deutungsmöglichkeiten der Entwicklung der sonderbaren Form. Möglichkeiten werden im Video, in dem sich die Form ständig verändert, angedeutet. Aber erst ganz zum Schluss nehmen sie für einen kurzen Moment eine konkrete Gestalt an, die an eine menschliche Erscheinung erinnert. Gelegentlich mutet die Materialität der Form an wie Holz, die einzelnen Elemente erscheinen wie Holzscheiben. Dann wieder wird die Form weich, zerfließt, wie ein Camembert.

Der Gedanke an die zerfließenden Formen von Salvador Dali, an die häufig aus den Figuren Dalis heraus ragenden Schubladen, liegt nahe. Die Werke Dalis werden dem Surrealismus zugeordnet. Davon distanzierte sich der Künstler zwar. Die von ihm als Eigenschöpfung postulierte paranoisch- kritische Methode, mit der er seine Werke nach eigenen Angaben erstellte, sah dem Surrealismus jedoch zum Verwechseln ähnlich. In eine derartige Richtung weist das Video Heer jedoch nicht. Der Künstlerin ist es nicht um das oftmals und gerade im Surrealismus beschworene Unterbewusste zu tun, sondern um die Oberfläche der Erscheinung und um deren Verankerung in gegenwärtigen Diskursen und Zeitströmungen.

Zunächst beginnt die Form sich zu drehen, zu zittern. Ein Riss, eine Irritation in der Darstellung, eine Unschärfe taucht auf – der Glitch. Es ist nicht mehr klar zu entscheiden, was aus dem Objekt in seiner irritierenden Zittrigkeit wird. Aber es werden weitere Entwicklungen sichtbar. Aus dem scheibenartigen Objekt formen sich Hände, die wieder in die Form hinein greifen. Es entsteht für einen kurzen Moment ein Torso. Der aber verschwindet sofort wieder, weitere Gliedmaßen bilden sich und verschmelzen ebenso schnell wieder mit der Form, wie sie aufgetauchen. Aber nicht nur Gliedmaßen deuten sich an, auch perfekt gerundete Eiformen sind für einen Moment teil der Erscheinung. Wenn sich in dem Gebilde ein Spalt auftut, weiter aufreißt und dieser zudem eine rötliche, in mehreren Falten gegliederte Form annimmt, assoziiert der Betrachter unversehens eine Vulva. Die bleibt allerdings ebenso geisterhaft wie die weiteren Ausformungen. Es sind kurz imaginierte Visionen.

Schon während der Entwicklung aber wird aus dem Objekt für Sekundenbruchteile eine menschliche Figur, die bläuliche Verfärbungen annimmt. Am Schluss des Videos trennt sich das Gebilde dann wirklich in zwei Figuren, die kurz zu sehen sind und dann wieder geisterhaft verschwimmen.

„Den Prinzipien selbstorganisierender Biologie folgend spiegelt Morphogenesis das erschreckende Potenzial des Glitches, einer unaufhaltsamen, ausser Kontrolle geratenen Logik,“ so die Künstlerin. Als 'kleine Störung', 'Panne' übersetzt das Lexikon den Begriff Glitch. Morphogenesis sei eine aus2 50 Bildern generierte KI-Evolution formuliert Jacqueline Heer. Die einzelnen verwendeten Bildvorlagen sind auf ihrer Website abrufbar -

https://jacquelineheerportfolio.format.com/morphogenesis

Als die Künstlerin im Jahre 2023 die einzelnen Vorlagen entwickelte, hatte sie nicht geplant, daraus einen Film entstehen zu lassen. Sie erstellte vielmehr 50 einzelne Grafiken von denen sie das fünfzigste Bild zur endgültigen Fassung erklärte. Mit dem technischen Fortschritt der Bildbearbeitungsmöglichkeiten mittels Künstlicher Intelligenz bot es sich jedoch an, die Bilderfolge noch einmal aufzugreifen und daraus den jetzt animierten Film zu erstellen. Bei der technisch recht anspruchsvollen Verschmelzung der einzelnen Bildern, so dass diese auch eine dramaturgisch schlüssige und fließende Erzählung ergeben, half ihr der französische Künstler und Programmierer Gabriel JeanJean. Das war notwendig, da für die Beherrschung der entsprechenden Programmschritte technische Fertigkeiten erforderlich sind, die gemeinhin nur bei einer entsprechenden fachlichen Qualifikation, wie der von Gabriel JeanJean, vorhanden sind.

Das Video ergänzt ein Set von 50 gedruckten Spielkarten, die auch als Kartenspiel zusammen gefasst werden. Deren papierne Rückseite blank ist. Darauf appliziert Heer von Hand jeweils eine Zeichnung mit einem relevanten Gedanken und/oder einen QR code, der zu einem Video oder anderen medialen Dokument leitet. Somit wird jedes Karten-set zum Unikat. Das Video vermittelt den Eindruck, als unterliege die im Entstehen begriffene Figur einer ständigen Störung. Hat sich für einen Sekundenbruchteil eine erkennbare, meist körperähnliche Manifestation gezeigt, verschwindet diese auch sofort wieder. Nichts ist stabil, beständig, alles im permanenten Fluss befindlich, in Auflösung und Neuformung begriffen. Diese Verwandlung, Auflösung und Reorganisation der Form entspricht dem gegenwärtigen Blick der Physik auf die Realität. Denn mit dem Einzug der Quantenphysik und der Formulierung der Relativitätstheorie ist klar geworden, dass fest und unwandelbar erscheinende physikalische Formen sich in steter Veränderung befinden und Raum und Zeit keine Konstanten sondern von den jeweiligen Grundbedingungen des Kosmos abhängig sind. Wie die Quanten in der gleichnamigen Theorie gleichzeitig verschiedene Energiezustände aufweisen können, scheint auch das Wesen und das Selbstverständnis des Menschen wandelbar und in kontinuierlicher Metamorphose begriffen.

Die in dem Video dargestellte Verwandlung der Ausgangsform bietet daher zahlreiche Deutungsmöglichkeiten, die auf aktuelle soziale Diskurse und wissenschaftlich-technische Entwicklungen rekurrieren. Ohne explizit an ein konkretes Geschehen anzuknüpfen oder politisch zu argumentieren, verlaufen von dem Video Assoziationsstränge zu gegenwärtigen Diskussionen über Genmanipulation, Genderfluidität, Künstliche Intelligenz und zur gesamtgesellschaftlichen Verantwortung des Menschen für die Welt, in der er agiert.

Heer bezieht in dem Video keine Stellung, sie ist keine Politaktivistin und es liegt ihr völlig fern, mit ihrer Kunst politische Propaganda zu betreiben. Allerdings verfügt sie über einen wachen Intellekt und ist eine aufmerksame Beobachterin gesellschaftlicher Strömungen. Entsprechend ihrer naturwissenschaftlichen Ausbildung ist sie an gegenwärtigen technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen interessiert und weiß diese einzuordnen. Die permanente Lektüre von Schriften, die das Zeitgeschehen reflektieren, verschafft ihr einen Horizont, der bemüht ist, nicht nur das Detail, sondern das Gesamtbild der Zeitläufte zu erfassen. Dieses Bestreben findet seine reflektive Ausformung regelmässig in ihrer Kunst. Zwar entsteht diese häufig ohne ein konkretes Konzept oder die Absicht, eine eindeutige Aussage zu formulieren. Aber es ist offensichtlich, dass die Arbeiten der Künstlerin Jacqueline Heer eine gesellschaftspolitische Dimension aufweisen. 3 Dies war schon bei ihren frühen großformatigen Fotoarbeiten von Figurengruppen so, setzte sich fort, als sie mit ihren Fotoarbeiten ihre Übersiedlung aus den monumentalen schweizerischen Alpen in die flache Weite der amerikanischen Landschaft von South Carolina thematisierte und fand seine Erweiterung in den dann folgenden Digitalenbildnissen wie 'the selfie in times of cyborg: a masquerade'.

Einige ihrer Werke können als ausdrücklich auf politische Situationen bezogen gelesen werden. In ihrer Installation '29 tears' bezieht sich Heer auf das Schicksal von 29 Vietnamesen auf dem Weg nach England, die in einem versiegelten Container starben, als sie dort von ihrem Schleuser zurück gelassen wurden.

Politische Fragestellungen und gesellschaftlichen Entwicklungen haben sich stets im Werk von Heer ebenso gespiegelt, ebenso wie der Fortschritt von Technik und Wissenschaft. Mit der von ihr entwickelten Plattform 'Ping-Pong – between Art and Knowledge' verbindet sie die beiden für sie maßgeblichen Interessenfelder. Diese verschiedenen Facetten der Arbeit der Künstlerin kommen auch in dem Video Morphogenesis zum Tragen. Wenn Hände die Form umgreifen, sich ein Unterleib und Beine formen, daraus wiederum ein Torso wird und dann als Auswuchs an dem Punkt der Scheibenform, die als ein Bein erscheint weil mittlerweile auch ein Fuß aufgetaucht ist, ein Auge entsteht, dann ist die Verbindung zu gegenwärtigen Diskussionen über Gentechnik und Genmanipulation und die Veränderbarkeit der Beschaffenheit des menschlichen Körpers naheliegend.

Elon Musk lässt derzeit an der unmittelbaren Schnittstelle von Geist und Technik forschen und versucht durch mikrometerdünne Fäden eine direkte Verbindung von Chip und Hirn herzustellen. Boston Dynamics entwickelt Laufroboter, die in ihren Bewegungen immer humanoider wirken. In Berlin gedeihen Forschungsreihen, die sich mit dem Auslesen von elektrischen Signalen der Hirnströme befassen und diese für technische Devices verfügbar machen. Die unmittelbare Verbindung von Mensch und Technik ist demnach ein Thema, das ganz offensichtlich auf der aktuellen Agenda von Kunst und Wissenschaft steht. Genau an dieser Entwicklungspunkt erscheint die Figur in dem Video Jacqueline Heers. Anders als bei ihrer früheren Arbeit 'a masquerde' ist der Ausgangspunkt jedoch kein technoides Gebilde, kein Cyborg, sondern das schon erwähnte biomorph anmutende Scheibengebilde. Schaut man nach einer Referenz im verwandten Medium des Spielfilms, so taucht einerseits Paul Weller als Cyborg Robocop aus dem gleichnamigen, genreprägenden Spielfilm von Paul Verhoeven auf, andererseits diverse Figuren aus den Filmen von David Cronenberg, die sich häufig mit ungewollten biomorphen Verwandlungen herum plagen. Heer allerdings ist kein Filmmacher mit Hollywood Budget, sondern eine Künstlerin, die am heimischen Computer mit dem Video 'Morphogenesis' die Grenzen des gegenwärtig mit allgemein zugänglicher Software Machbaren auslotet.

Hierbei hat sie mit Morphogenesis zu einem Zeitpunkt agiert, der mittlerweile wohl vorüber ist. Ihre Figur könnte gegenwärtig so nicht mehr entstehen, denn die entsprechenden Programmschritte seien aus den Features und Algorithmen entfernt worden, erklärt Heer. Einem entsprechenden Gebilde eine menschliche Erscheinung und der Oberfläche der Figur eine Textur zu geben, die der menschlichen Haut ähnele, sei gegenwärtig nicht mehr möglich, stellt die Künstlerin fest. Dem hätten die das Softwareprogramm entwickelnden Firmen einen Riegel vorgeschoben, denn zu häufig seien die Programme zur Herstellung von extremen Pornovarianten verwendet worden. Was nicht verwundert, schließlich besteht der Content des Word Wide Web nach seriösen Schätzungen ohnehin zu etwa fünfzig Prozent aus Pornosites. Der humanoide Fortpflanzungsprozess bleibt offensichtlich trotz aller Technikbegeisterung weiterhin Menschheitsthema und ist in dem Video von Heer, in dem schließlich aus einem Wesen4 zwei werden, ständig präsent. Dennoch stellt sich die Frage, wohin dieser Prozess führt und die Antworten darauf fallen ziemlich unterschiedlich aus.

Ray Kurzweil, der homosexuelle Informatiker und Chefideologe von Google geht davon aus, dass der biologisch determinierte Fortpflanzungsvorgang des Menschen ohnehin überflüssig sei und kapriziert sich deshalb auf eine allein technisch gestützte Prolongation des Individuums ins technoide Nirwana der Datencloud. In der Wolke findet sich seiner Ansicht nach bestenfalls die gesamte Menschheit wieder. Vor derartigen Entwicklungssträngen hatten allerdings der Physiker Stephen Hawking ebenso wie der Schriftsteller Isaac Asimov schon vor Jahrzehnten eindringlich gewarnt. Genreprägend durchbuchstabiert wurde die Problematik der Menschlichkeit des Menschen und sein Verhältnis zur Reproduktionstechnik auf einer nie wieder visuell und philosophisch erreichten Höhe in dem Science Fiction Film Blade Runner. Und wohin die gescheiterte Veredelung der menschlichen Genstruktur führen kann, hatte wiederum Cronenberg mit seinem Film 'die Fliege' gezeigt. Während es sich bei den erwähnten Referenzen jedoch um vorwiegend dystopische Entwürfe handelt, erscheint die Entwicklung der Figur Heers erheblich vielfältiger und in ihrer Ausrichtung ambivalenter.

Dies verdankt das Video nicht zuletzt der unterlegten Musik. Im Rhythmus der Veränderungen der im Film gezeigten Skulptur ist ein sirrender, gleitender Ton zu hören, der eine tranceartige Stimmung erzeugt. Der Klang findet anscheinend in der Tiefe des Raumes seinen Widerhall, schwillt an, ebbt ab und begleitet die Metamorphosen der Skulptur. Dann aber wird in dem Video etwas sichtbar, das an eine menschliche Figur erinnert, aus dem Sound entsteht eine hell klingende Tonsequenz. Dem Betrachter vermittelt sich der Eindruck eines Aufbruchs, als erscheine etwas Neues, Schönes, das aus dem eiähnlichen Gebilde entstanden ist. Mehrere Handformen tauchen am Körper auf, schließlich emaniert eine bläuliche Form, an deren oberem Teil ein Gesicht zu sehen ist. Wie eine Geistererscheinung löst sich etwas von der Figur ab. Dann verklingt der Soundtrack, den Julienne Dessange überaus einfühlsam zu Morphogenesis komponiert hat. Dessange ist eine experimentell arbeitende Musikerin, die meist vor größerem Publikum ihre Kompositionen entfaltet. Der Künstlername unter dem sie präsent ist lautet: fantastic twins. Für Heer hat sie sich auf das für Dessange ungewöhnliche Feld des Soundtracks begeben. Das Ergebnis der Zusammenarbeit spricht für sich. Es verbleibt nach dem Schauen des Films der Eindruck, das Gesehene sei vielleicht ein Riss in der Realität, ein Glitch. Die Skulptur erscheint als ein Zeichen des Übergangs einer Form in eine Andere, die Verwandlung als ein Prozess, der symbolhaft für den gegenwärtigen Zustand des menschlichen Körpers und der gesellschaftlichen Strukturen gelesen werden kann. Ohnehin ist ein erheblicher Teil der Sozialwissenschaften der Ansicht, dass es den Körper an sich überhaupt nicht geben würde, sondern dieser immer ein soziales Konstrukt sei, dessen Deutungen von der gesamtgesellschaftlichen Einschätzung abhängig sei.

Denn das Verständnis von Körperlichkeit ist ebenso wie seine physische Grundlage in Wandlung begriffen. Immer mehr Lebenszeit spielt sich im Internet ab. Sobald auch nur eine kurze Zeit der Muße droht, wandert der Blick der meisten Menschen zum Smartphone. Datenbrillen, die Augen und Ohren versiegeln, erzeugen dreidimensionale Realitäten die in ihrer Perfektion schwindeln machen und dem Nutzer unmittelbar das Gefühl vermitteln, in eine Matrix eingetreten zu sein. Oder endlich zu erkennen, dass er ohnehin nur ein Teil der Matrix ist, wie der gleichnamige Film nahe legt.

Es ist also so, als sei der Glitch, der Fehler, die kleine Störung, nicht der Fehler im Algorithmus und nicht das Zittern der Skulptur im Film, sondern als sei der Mensch und die Selbstwahrnehmung des Individuums an sich der Fehler. Denn offensichtlich ist der Einzelne nicht in der Lage, das Ganze zu5 Erkennen. Es wirkt als erstellte er jeweils zittrige Hypothesen seiner Sicht auf Wirklichkeit. Diese können jedoch jederzeit wieder erschüttert, werden, zerfließen und so im Orkus des 'Glitch' verschwinden. Was bleibt ist ein nebulöser Hauch in der Datencloud, die humanoide Lebensäußerungen speichert, solange die Stromversorgung funktioniert.

The GLITCH

ein popwissenschaftlicher Essay zu Jacqueline Heer

MORPHOGENESIS

von Richard Rabensaat

Das Geschehen bleibt unbestimmt, die Form zittrig, die Farbe diffus. In dem Video Mophogenesis von Jacqueline Heer gibt es keine eindeutigen Haltepunkte.

Am Anfang steht eine Form, die auf einer planen Oberfläche einen harten Schatten wirft. Zwei dünnere Äste oder Zeiger weisen von der voluminösen Hauptform ab. Das ganze Gebilde ist durch Ringe und Verknotungen gegliedert. Vielleicht sind es auch Scheiben einer baumartigen Substanz, die aufeinander geschichtet sind. Seine beige Farbigkeit spielt etwas ins Rötliche. Mit seinen runden, weichen Formen erinnert das Objekt auch an ein Sexspielzeug oder ein männliches Sexualorgan.

Dem Betrachter bieten sich viele Deutungsmöglichkeiten der Entwicklung der sonderbaren Form. Möglichkeiten werden im Video, in dem sich die Form ständig verändert, angedeutet. Aber erst ganz zum Schluss nehmen sie für einen kurzen Moment eine konkrete Gestalt an, die an eine menschliche Erscheinung erinnert. Gelegentlich mutet die Materialität der Form an wie Holz, die einzelnen Elemente erscheinen wie Holzscheiben. Dann wieder wird die Form weich, zerfließt, wie ein Camembert.

Der Gedanke an die zerfließenden Formen von Salvador Dali, an die häufig aus den Figuren Dalis heraus ragenden Schubladen, liegt nahe. Die Werke Dalis werden dem Surrealismus zugeordnet. Davon distanzierte sich der Künstler zwar. Die von ihm als Eigenschöpfung postulierte paranoisch- kritische Methode, mit der er seine Werke nach eigenen Angaben erstellte, sah dem Surrealismus jedoch zum Verwechseln ähnlich. In eine derartige Richtung weist das Video Heer jedoch nicht. Der Künstlerin ist es nicht um das oftmals und gerade im Surrealismus beschworene Unterbewusste zu tun, sondern um die Oberfläche der Erscheinung und um deren Verankerung in gegenwärtigen Diskursen und Zeitströmungen.

Zunächst beginnt die Form sich zu drehen, zu zittern. Ein Riss, eine Irritation in der Darstellung, eine Unschärfe taucht auf – der Glitch. Es ist nicht mehr klar zu entscheiden, was aus dem Objekt in seiner irritierenden Zittrigkeit wird. Aber es werden weitere Entwicklungen sichtbar. Aus dem scheibenartigen Objekt formen sich Hände, die wieder in die Form hinein greifen. Es entsteht für einen kurzen Moment ein Torso. Der aber verschwindet sofort wieder, weitere Gliedmaßen bilden sich und verschmelzen ebenso schnell wieder mit der Form, wie sie aufgetauchen. Aber nicht nur Gliedmaßen deuten sich an, auch perfekt gerundete Eiformen sind für einen Moment teil der Erscheinung. Wenn sich in dem Gebilde ein Spalt auftut, weiter aufreißt und dieser zudem eine rötliche, in mehreren Falten gegliederte Form annimmt, assoziiert der Betrachter unversehens eine Vulva. Die bleibt allerdings ebenso geisterhaft wie die weiteren Ausformungen. Es sind kurz imaginierte Visionen.

Schon während der Entwicklung aber wird aus dem Objekt für Sekundenbruchteile eine menschliche Figur, die bläuliche Verfärbungen annimmt. Am Schluss des Videos trennt sich das Gebilde dann wirklich in zwei Figuren, die kurz zu sehen sind und dann wieder geisterhaft verschwimmen.

„Den Prinzipien selbstorganisierender Biologie folgend spiegelt Morphogenesis das erschreckende Potenzial des Glitches, einer unaufhaltsamen, ausser Kontrolle geratenen Logik,“ so die Künstlerin. Als 'kleine Störung', 'Panne' übersetzt das Lexikon den Begriff Glitch. Morphogenesis sei eine aus2 50 Bildern generierte KI-Evolution formuliert Jacqueline Heer. Die einzelnen verwendeten Bildvorlagen sind auf ihrer Website abrufbar -

https://jacquelineheerportfolio.format.com/morphogenesis

Als die Künstlerin im Jahre 2023 die einzelnen Vorlagen entwickelte, hatte sie nicht geplant, daraus einen Film entstehen zu lassen. Sie erstellte vielmehr 50 einzelne Grafiken von denen sie das fünfzigste Bild zur endgültigen Fassung erklärte. Mit dem technischen Fortschritt der Bildbearbeitungsmöglichkeiten mittels Künstlicher Intelligenz bot es sich jedoch an, die Bilderfolge noch einmal aufzugreifen und daraus den jetzt animierten Film zu erstellen. Bei der technisch recht anspruchsvollen Verschmelzung der einzelnen Bildern, so dass diese auch eine dramaturgisch schlüssige und fließende Erzählung ergeben, half ihr der französische Künstler und Programmierer Gabriel JeanJean. Das war notwendig, da für die Beherrschung der entsprechenden Programmschritte technische Fertigkeiten erforderlich sind, die gemeinhin nur bei einer entsprechenden fachlichen Qualifikation, wie der von Gabriel JeanJean, vorhanden sind.

Das Video ergänzt ein Set von 50 gedruckten Spielkarten, die auch als Kartenspiel zusammen gefasst werden. Deren papierne Rückseite blank ist. Darauf appliziert Heer von Hand jeweils eine Zeichnung mit einem relevanten Gedanken und/oder einen QR code, der zu einem Video oder anderen medialen Dokument leitet. Somit wird jedes Karten-set zum Unikat. Das Video vermittelt den Eindruck, als unterliege die im Entstehen begriffene Figur einer ständigen Störung. Hat sich für einen Sekundenbruchteil eine erkennbare, meist körperähnliche Manifestation gezeigt, verschwindet diese auch sofort wieder. Nichts ist stabil, beständig, alles im permanenten Fluss befindlich, in Auflösung und Neuformung begriffen. Diese Verwandlung, Auflösung und Reorganisation der Form entspricht dem gegenwärtigen Blick der Physik auf die Realität. Denn mit dem Einzug der Quantenphysik und der Formulierung der Relativitätstheorie ist klar geworden, dass fest und unwandelbar erscheinende physikalische Formen sich in steter Veränderung befinden und Raum und Zeit keine Konstanten sondern von den jeweiligen Grundbedingungen des Kosmos abhängig sind. Wie die Quanten in der gleichnamigen Theorie gleichzeitig verschiedene Energiezustände aufweisen können, scheint auch das Wesen und das Selbstverständnis des Menschen wandelbar und in kontinuierlicher Metamorphose begriffen.

Die in dem Video dargestellte Verwandlung der Ausgangsform bietet daher zahlreiche Deutungsmöglichkeiten, die auf aktuelle soziale Diskurse und wissenschaftlich-technische Entwicklungen rekurrieren. Ohne explizit an ein konkretes Geschehen anzuknüpfen oder politisch zu argumentieren, verlaufen von dem Video Assoziationsstränge zu gegenwärtigen Diskussionen über Genmanipulation, Genderfluidität, Künstliche Intelligenz und zur gesamtgesellschaftlichen Verantwortung des Menschen für die Welt, in der er agiert.

Heer bezieht in dem Video keine Stellung, sie ist keine Politaktivistin und es liegt ihr völlig fern, mit ihrer Kunst politische Propaganda zu betreiben. Allerdings verfügt sie über einen wachen Intellekt und ist eine aufmerksame Beobachterin gesellschaftlicher Strömungen. Entsprechend ihrer naturwissenschaftlichen Ausbildung ist sie an gegenwärtigen technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen interessiert und weiß diese einzuordnen. Die permanente Lektüre von Schriften, die das Zeitgeschehen reflektieren, verschafft ihr einen Horizont, der bemüht ist, nicht nur das Detail, sondern das Gesamtbild der Zeitläufte zu erfassen. Dieses Bestreben findet seine reflektive Ausformung regelmässig in ihrer Kunst. Zwar entsteht diese häufig ohne ein konkretes Konzept oder die Absicht, eine eindeutige Aussage zu formulieren. Aber es ist offensichtlich, dass die Arbeiten der Künstlerin Jacqueline Heer eine gesellschaftspolitische Dimension aufweisen. 3 Dies war schon bei ihren frühen großformatigen Fotoarbeiten von Figurengruppen so, setzte sich fort, als sie mit ihren Fotoarbeiten ihre Übersiedlung aus den monumentalen schweizerischen Alpen in die flache Weite der amerikanischen Landschaft von South Carolina thematisierte und fand seine Erweiterung in den dann folgenden Digitalenbildnissen wie 'the selfie in times of cyborg: a masquerade'.

Einige ihrer Werke können als ausdrücklich auf politische Situationen bezogen gelesen werden. In ihrer Installation '29 tears' bezieht sich Heer auf das Schicksal von 29 Vietnamesen auf dem Weg nach England, die in einem versiegelten Container starben, als sie dort von ihrem Schleuser zurück gelassen wurden.

Politische Fragestellungen und gesellschaftlichen Entwicklungen haben sich stets im Werk von Heer ebenso gespiegelt, ebenso wie der Fortschritt von Technik und Wissenschaft. Mit der von ihr entwickelten Plattform 'Ping-Pong – between Art and Knowledge' verbindet sie die beiden für sie maßgeblichen Interessenfelder. Diese verschiedenen Facetten der Arbeit der Künstlerin kommen auch in dem Video Morphogenesis zum Tragen. Wenn Hände die Form umgreifen, sich ein Unterleib und Beine formen, daraus wiederum ein Torso wird und dann als Auswuchs an dem Punkt der Scheibenform, die als ein Bein erscheint weil mittlerweile auch ein Fuß aufgetaucht ist, ein Auge entsteht, dann ist die Verbindung zu gegenwärtigen Diskussionen über Gentechnik und Genmanipulation und die Veränderbarkeit der Beschaffenheit des menschlichen Körpers naheliegend.

Elon Musk lässt derzeit an der unmittelbaren Schnittstelle von Geist und Technik forschen und versucht durch mikrometerdünne Fäden eine direkte Verbindung von Chip und Hirn herzustellen. Boston Dynamics entwickelt Laufroboter, die in ihren Bewegungen immer humanoider wirken. In Berlin gedeihen Forschungsreihen, die sich mit dem Auslesen von elektrischen Signalen der Hirnströme befassen und diese für technische Devices verfügbar machen. Die unmittelbare Verbindung von Mensch und Technik ist demnach ein Thema, das ganz offensichtlich auf der aktuellen Agenda von Kunst und Wissenschaft steht. Genau an dieser Entwicklungspunkt erscheint die Figur in dem Video Jacqueline Heers. Anders als bei ihrer früheren Arbeit 'a masquerde' ist der Ausgangspunkt jedoch kein technoides Gebilde, kein Cyborg, sondern das schon erwähnte biomorph anmutende Scheibengebilde. Schaut man nach einer Referenz im verwandten Medium des Spielfilms, so taucht einerseits Paul Weller als Cyborg Robocop aus dem gleichnamigen, genreprägenden Spielfilm von Paul Verhoeven auf, andererseits diverse Figuren aus den Filmen von David Cronenberg, die sich häufig mit ungewollten biomorphen Verwandlungen herum plagen. Heer allerdings ist kein Filmmacher mit Hollywood Budget, sondern eine Künstlerin, die am heimischen Computer mit dem Video 'Morphogenesis' die Grenzen des gegenwärtig mit allgemein zugänglicher Software Machbaren auslotet.

Hierbei hat sie mit Morphogenesis zu einem Zeitpunkt agiert, der mittlerweile wohl vorüber ist. Ihre Figur könnte gegenwärtig so nicht mehr entstehen, denn die entsprechenden Programmschritte seien aus den Features und Algorithmen entfernt worden, erklärt Heer. Einem entsprechenden Gebilde eine menschliche Erscheinung und der Oberfläche der Figur eine Textur zu geben, die der menschlichen Haut ähnele, sei gegenwärtig nicht mehr möglich, stellt die Künstlerin fest. Dem hätten die das Softwareprogramm entwickelnden Firmen einen Riegel vorgeschoben, denn zu häufig seien die Programme zur Herstellung von extremen Pornovarianten verwendet worden. Was nicht verwundert, schließlich besteht der Content des Word Wide Web nach seriösen Schätzungen ohnehin zu etwa fünfzig Prozent aus Pornosites. Der humanoide Fortpflanzungsprozess bleibt offensichtlich trotz aller Technikbegeisterung weiterhin Menschheitsthema und ist in dem Video von Heer, in dem schließlich aus einem Wesen4 zwei werden, ständig präsent. Dennoch stellt sich die Frage, wohin dieser Prozess führt und die Antworten darauf fallen ziemlich unterschiedlich aus.

Ray Kurzweil, der homosexuelle Informatiker und Chefideologe von Google geht davon aus, dass der biologisch determinierte Fortpflanzungsvorgang des Menschen ohnehin überflüssig sei und kapriziert sich deshalb auf eine allein technisch gestützte Prolongation des Individuums ins technoide Nirwana der Datencloud. In der Wolke findet sich seiner Ansicht nach bestenfalls die gesamte Menschheit wieder. Vor derartigen Entwicklungssträngen hatten allerdings der Physiker Stephen Hawking ebenso wie der Schriftsteller Isaac Asimov schon vor Jahrzehnten eindringlich gewarnt. Genreprägend durchbuchstabiert wurde die Problematik der Menschlichkeit des Menschen und sein Verhältnis zur Reproduktionstechnik auf einer nie wieder visuell und philosophisch erreichten Höhe in dem Science Fiction Film Blade Runner. Und wohin die gescheiterte Veredelung der menschlichen Genstruktur führen kann, hatte wiederum Cronenberg mit seinem Film 'die Fliege' gezeigt. Während es sich bei den erwähnten Referenzen jedoch um vorwiegend dystopische Entwürfe handelt, erscheint die Entwicklung der Figur Heers erheblich vielfältiger und in ihrer Ausrichtung ambivalenter.

Dies verdankt das Video nicht zuletzt der unterlegten Musik. Im Rhythmus der Veränderungen der im Film gezeigten Skulptur ist ein sirrender, gleitender Ton zu hören, der eine tranceartige Stimmung erzeugt. Der Klang findet anscheinend in der Tiefe des Raumes seinen Widerhall, schwillt an, ebbt ab und begleitet die Metamorphosen der Skulptur. Dann aber wird in dem Video etwas sichtbar, das an eine menschliche Figur erinnert, aus dem Sound entsteht eine hell klingende Tonsequenz. Dem Betrachter vermittelt sich der Eindruck eines Aufbruchs, als erscheine etwas Neues, Schönes, das aus dem eiähnlichen Gebilde entstanden ist. Mehrere Handformen tauchen am Körper auf, schließlich emaniert eine bläuliche Form, an deren oberem Teil ein Gesicht zu sehen ist. Wie eine Geistererscheinung löst sich etwas von der Figur ab. Dann verklingt der Soundtrack, den Julienne Dessange überaus einfühlsam zu Morphogenesis komponiert hat. Dessange ist eine experimentell arbeitende Musikerin, die meist vor größerem Publikum ihre Kompositionen entfaltet. Der Künstlername unter dem sie präsent ist lautet: fantastic twins. Für Heer hat sie sich auf das für Dessange ungewöhnliche Feld des Soundtracks begeben. Das Ergebnis der Zusammenarbeit spricht für sich. Es verbleibt nach dem Schauen des Films der Eindruck, das Gesehene sei vielleicht ein Riss in der Realität, ein Glitch. Die Skulptur erscheint als ein Zeichen des Übergangs einer Form in eine Andere, die Verwandlung als ein Prozess, der symbolhaft für den gegenwärtigen Zustand des menschlichen Körpers und der gesellschaftlichen Strukturen gelesen werden kann. Ohnehin ist ein erheblicher Teil der Sozialwissenschaften der Ansicht, dass es den Körper an sich überhaupt nicht geben würde, sondern dieser immer ein soziales Konstrukt sei, dessen Deutungen von der gesamtgesellschaftlichen Einschätzung abhängig sei.

Denn das Verständnis von Körperlichkeit ist ebenso wie seine physische Grundlage in Wandlung begriffen. Immer mehr Lebenszeit spielt sich im Internet ab. Sobald auch nur eine kurze Zeit der Muße droht, wandert der Blick der meisten Menschen zum Smartphone. Datenbrillen, die Augen und Ohren versiegeln, erzeugen dreidimensionale Realitäten die in ihrer Perfektion schwindeln machen und dem Nutzer unmittelbar das Gefühl vermitteln, in eine Matrix eingetreten zu sein. Oder endlich zu erkennen, dass er ohnehin nur ein Teil der Matrix ist, wie der gleichnamige Film nahe legt.

Es ist also so, als sei der Glitch, der Fehler, die kleine Störung, nicht der Fehler im Algorithmus und nicht das Zittern der Skulptur im Film, sondern als sei der Mensch und die Selbstwahrnehmung des Individuums an sich der Fehler. Denn offensichtlich ist der Einzelne nicht in der Lage, das Ganze zu5 Erkennen. Es wirkt als erstellte er jeweils zittrige Hypothesen seiner Sicht auf Wirklichkeit. Diese können jedoch jederzeit wieder erschüttert, werden, zerfließen und so im Orkus des 'Glitch' verschwinden. Was bleibt ist ein nebulöser Hauch in der Datencloud, die humanoide Lebensäußerungen speichert, solange die Stromversorgung funktioniert.

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